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ID#15

20.03.2021

Hartmut Mai: Von Fußballfeldern, digitalen Partnerschaften und neuen Businessmodellen – ID#15

Was bedeuten digitale Partnerschaften für die Industrieversicherung? Kann Digitalisierung das Denken in Sparten und Produkten verändern, vielleicht sogar vereinfachen? Ist Blockchain nur ein Hype? Wer könnte den Change in der Industrieversicherung anstoßen? Und was haben Fußballfelder damit zu tun?

Dazu haben sich Benjamin Zühr und Ansgar Knipschild mit Hartmut Mai unterhalten, der in den letzten zwölf Jahren an verschiedenen verantwortungsvollen Positionen bei der AGCS unterwegs war.

Länge: 49 Min.

Transkript

Ansgar Knipschild: Herzlich willkommen zu einer neuen Ausgabe von Industrieversicherung digital, heute mit einem Gast. Herzlich willkommen, Hartmut Mai.

Hartmut Mai: Ja, herzlich willkommen, vielen Dank, dass ich hier sein darf, auch alle Zuhörer. Ich freue mich darauf, hier zu sein und die Diskussion, ich glaube, die ist im Moment sehr notwendig und sehr wichtig.

Ansgar Knipschild: Prima. Vielen Dank für die Begrüßung, Herr Mai. Wie schon angekündigt, mit mir wie immer mein Co-Host. So heißt es, glaube ich, jetzt Neudeutsch in dem Podcast. Benjamin Zühr. Hallo Benjamin.

Benjamin Zühr: Hallo zusammen.

Ansgar Knipschild: Wir starten direkt durch. Eine kurze Vorstellung noch zu Hartmut Mai. Ich vermute, viele unserer Zuhörer kennen ihn. Er ist ein langjähriger Wegbegleiter in der Industrieversicherung. Er war unter anderem nach AIG und Marsh in den letzten zwölf Jahren in verschiedenen verantwortungsvollen Positionen bei der AGCS, zuletzt Member of the Executive Board of Management and Chief Underwriting Officer, aber auch Head of Global Broker Management und last, but not least, was für uns ja sehr interessant ist, in der Führung von Innovation, Digitalisierung und digitalen Partnerschaften für die AGCS. Was ich auch noch herausgefunden habe, Herr Mai, Sie haben in Köln studiert. Das muss ich natürlich als Kölner hier auch noch einmal ganz kurz hier lancieren. Wo hat es Sie inzwischen hin verschlagen? Sind Sie noch im Rheinland?

Hartmut Mai: Nein, natürlich bleibt man mit dem Herzen immer im Rheinland.

Ansgar Knipschild: Die Antwort wollte ich hören.

Hartmut Mai: Ich lebe jetzt in der Diaspora, seit 14 Jahren in München.

Benjamin Zühr: Was ja auch eine sehr, sehr schöne Stadt ist. Auch von meiner Seite noch einmal herzlich willkommen. Als wir den Podcast geplant haben, haben wir uns zu Anfang gefragt, was Sie unter dem Begriff digitale Partnerschaft verstehen oder auch, wie Sie zukünftig die Zusammenarbeit zwischen Makler, Versicherer und Kunden in einer digitalen Zukunft sehen und wie diese aussieht.

Hartmut Mai: Da müssen wir uns ein bisschen annähern, um diese Frage zu beantworten. Und zwar, wenn ich die jetzigen Stakeholder an einem Versicherungsmarkt betrachte, dann ist das in der Regel – Sie haben es gesagt – der Kunde, der im Mittelpunkt steht und dann ist der Intermediary, der Makler, der Vermittler, der in der Mitte steht und dann ist da der Risikoträger, der Versicherer, der dann ganz hinten in der Nahrungskette steht. Das Modell wird sehr wahrscheinlich aufgebrochen werden müssen, wenn wir Digitalisierung in irgendeiner Form ernsthaft betreiben wollen. Es gibt natürlich viele Servicedienstleister, die der Versicherer, aber auch der Makler brauchen, um den Kunden einen optimalen, auf ihn abgestimmten Service anzubieten. Da spielt die Digitalisierung eine entscheidende Rolle. Diese Partner gilt es mit einzubeziehen. Neudeutsch würde man wahrscheinlich Ecosystem sagen, in diese Wertschöpfungskette mit einzubeziehen, wobei die Bezahlung, die ausschließlich vom Kunden kommt, dann im Innenverhältnis aufzuteilen ist. Das heißt, der digitale Partner hat an der Prämienzahlung, die ja heute schon im traditionellen Modell teilweise dann an den Makler über die Commission mit aufgeteilt wird, an dieser Aufteilung hat dann der digitale Partner von morgen auch einen Anteil und hat damit – und das ist der positive Punkt für den Kunden – ein starkes Interesse, seine Services immer optimal auf den Kunden abgestimmt anzubieten, um den Gesamterfolg des Portfolios im Blick zu haben, genauso wie der Versicherer. Ich glaube auch, dass die Teilnehmer an einem solchen digitalen Ecosystem in Versicherung immer à jour bleiben wollen, um sicherzustellen, dass der Kunde, der am Ende des Tages die Nahrungskette füttert, immer optimalen Service bekommt. Ich glaube, wenn man das so denkt, dann ist der Kunde automatisch im Zentrum von dem ganzen Geschehen. Das verstehe ich eigentlich unter digitaler Partnerschaft. Das können viele sein. Das können Softwarehäuser sein. Das können Gesellschaften sein, die Ingenieurdienstleistungen anbieten. Das können Unternehmen sein, die Data Analytics anbieten, vielleicht im Cyber-Bereich etc. Das Feld ist sehr weit gespannt.

Ansgar Knipschild: Da denken Sie aber meiner Meinung nach schon sehr weit, Herr Mai. Denn wenn ich mir da einmal den Markt der letzten Jahrzehnte angucke, wo traditionell in Sparten oder in Produkten gedacht wird. Wir alle kennen Sachtransport D&O als Beispiel. Sie selbst kommen auch aus dem Bereich Financial Lines, kennen den Bereich sehr gut. Kunden werden ausgefragt, nach produktspezifischen Risikodaten, die berühmten Fragebögen, die Jahresstichtagsbögen. Sie reden jetzt von neuen Playern. Ich sage ausdrücklich nicht nur Software, sondern eben auch viele, viele Dienstleistungen drum herum. Kann Digitalisierung dieses Spiel verändern, vielleicht sogar vereinfachen?

Hartmut Mai: Viele Player haben sich auf die Fahne geschrieben, client-centric zu sein. Das heißt, den Kunden immer in den Mittelpunkt zu stellen. Wenn Sie jetzt einmal beim Kundengedanken ansetzen, ist dem Kunden das relativ egal, er möchte eigentlich gar nicht nach Sparten gesehen werden. Er möchte nicht nur als der Sachkunde oder der D&O-Kunde oder der Haftpflichtkunde gesehen werden. Sondern der Kunde drängt ja darauf, eine Gesamtkundenverbindung in diese Geschäftsbeziehung mit einfließen zu lassen. Das heißt also, wenn zum Beispiel der D&O-Vertrag eines Kunden nicht so gut verläuft, dafür aber die anderen fünf Verträge, die ich beim gleichen Versicherer gut platziert habe, gut laufen, dann kann es ja nicht sein, dass der Versicherer dann hergeht und das D&O-Problem massiv adressiert, wobei er die anderen Themen unangetastet lässt und auch die positiven Wirkungen davon nicht zur Kenntnis nimmt. Deswegen ist diese Gesamtkundenschau ganz wichtig. Das heißt, jedes Unternehmen, das sich auf die Fahne schreibt, wir sind client-centric, der Kunde steht im Mittelpunkt, der muss das Spartendenken nach außen hin aufgeben. Der kann es vielleicht nach innen noch weiter betreiben. Aber nach außen muss er es aufgeben. Wo kann hier die Digitalisierung helfen? Wenn Sie sich jetzt einmal die Fragebögen – und das haben Sie, Herr Knipschild, ja gefragt – pro Produktsparte anschauen und wir gehen jetzt einmal davon aus, es gibt vierzig Produkte, dann habe ich vierzig unterschiedliche Fragebögen. Jetzt staple ich diese Fragebögen einmal übereinander und stelle mir die Frage, wie viele Fragen werden hier eigentlich mehr als einmal gestellt. Sie kommen im schlechtesten Fall dazu, dass hier vereinzelt Fragen vierzigmal gestellt werden, dann gilt es, diese Fragen auszufiltern, um dann für alle Produktsparten einen, nur einen Fragebogen anzubieten. Dann gehe ich den nächsten Schritt hinein. Dann überlege ich mir als Versicherer, welche Daten von den Fragen, die ich stelle, habe ich eigentlich schon, welche sind in meinem Portfolio drin. Das wäre für mich der zweite Filter. Dann bleiben wiederum weniger Fragen übrig. Dann gehe ich hinein und nehme diese Fragen wiederum und halte sie gegen Informationen, die ich in der Public Domain sowieso bekomme, Internetrecherche oder Credit Scoring Provider oder Etliches mehr, diese Services, die ich mir als Versicherer einkaufe und die filtere ich dann noch einmal durch. Dann bleiben wieder weniger Fragen übrig. Nach dieser These – und ich habe diese These schon mehrfach vertreten -, in einem Best-Case-Szenario, wenn ich dieses Filtersystem betreibe, bleiben am Ende des Tages vielleicht noch fünf Fragen, die mich wirklich interessieren. Mit diesen fünf Fragen kann ich auf den Kunden zugehen und wenn er mir diese Fragen beantwortet, dann kann ich nicht nur eine Sparte und ihm einen Service anbieten, sondern ich kann ihm vierzig Produkte anbieten, wenn ich das möchte. Dahin müssen wir kommen. Das heißt also, weg von dem überbordenden System der Fragebögen und des Appetits auf Daten, weil die Daten teilweise schon existieren und eher hin zu einem gesamtheitlichen Blick auf den Kunden, weil viele Sparten ja auf der Risikobewertung untereinander korrelieren. Deswegen, glaube ich, ist es wirklich sinnvoll, das zusammenzuführen, und zwar im Backend. Wenn das der Fall ist – und einige Versicherer sind auf diesem Weg, auf dem guten Weg, auch das haben wir bei meinem alten Arbeitgeber forciert -, dann stellt sich natürlich im übertragenen Sinne die nächste Frage, kann ich auf eine Submission warten, kann ich mich zurücklehnen, so wie wir es früher gemacht haben und auf die Submission warten und dann entscheiden, Daumen hoch oder Daumen runter, oder gehe ich vielmehr hin und mache ein sogenanntes Pre-Underwriting auf die Kunden, die ich wirklich in meinem Portfolio haben möchte. Was ich damit meine, ich kann hergehen und über ein Pre-Underwriting die Kunden herausfiltern, die positiv entgegen meinem Portfolio modellierbar sind nur die spreche ich an und die anderen spreche ich nicht mehr an. Das hat natürlich einen Kostenimpact, weil dann nicht mehr davon ausgehe, dass, wenn ich gut bin, von den ganzen Submissions, die ich bekomme, vielleicht eine Hit Ratio von 22 Prozent habe. Sondern dann geht meine Hit Ratio auf dem quotierten Geschäft gegen 70 bis achtzig 80, weil ich nur dort agiere, wo wirklich eine positive Modellierung gegen mein Gesamtportfolio stattgefunden hat. Da müssen wir hin. Ich weiß, das war jetzt sehr viel, aber ich glaube, das ist so ein bisschen skizziert, wohin das führen wird.

Ansgar Knipschild: Das hört sich jetzt wirklich sehr sportlich an, Herr Mai. Wie viele Industrieversicherer auf der Welt kriegen denn so etwas perspektivisch überhaupt hin?

Hartmut Mai: Ich kann es jetzt naturgemäß nur für zwei beantworten. Ich habe in meiner Karriere für zwei Industrieversicherer gearbeitet und ich weiß, dass beide Industrieversicherer an diesen Themen dran sind. Die AIG ist an einem Thema dran. Das weiß ich. Die AGCS ist auch an diesem Thema dran. Jetzt ist nur die Frage, mit welcher Stringenz man das durchzieht und durchführt. Das sind natürlich Dinge, die passieren nicht über Nacht. Aber diese Unternehmen arbeiten auch nicht erst seit gestern daran, sondern bereits seit Jahren. Wenn Sie mich diesbezüglich jetzt nach einem Zeithorizont fragen, dann würde ich da einmal sagen, das System sollte eigentlich in spätestens drei Jahren umgesetzt sein. Das heißt also, wenn ich den Datensatz nutze, um einen Blick in die Zukunft zu sagen und ich sage jetzt nicht dreißig Jahre, sondern ich sage jetzt zwei bis drei Jahre und das meine ich mit positiver Modellierung des Portfolios. Das heißt, dass wir davon weggehen, der Kunde war die letzten zwanzig Jahre profitabel für mich und deswegen und deswegen wird er auch die nächsten zehn Jahre profitabel für mich sein, sondern hin zu dem Thema, der Datensatz Realtime heute ist wie folgt und auf Basis dieses Datensatzes, der mir zur Verfügung steht, baue ich die Analytics so, dass ich jetzt schon sehen kann, auch in den nächsten drei Jahren wird der für mich profitabel sein. Das existiert heute schon in vereinzelten Sparten, natürlich noch nicht aus der Gesamtkundensicht. Aber der Schritt sollte dann nicht mehr so weit sein, weil das Modell das gleiche ist.

Benjamin Zühr: Ich finde es ganz spannend, weil wir ja auch in dem einen oder anderen Podcast schon davon gesprochen haben, dass wir gesagt haben, wir müssen gerade aus der Sicht der Digitalisierung den Kunden mehr aus der Risikosicht als aus der Spartensicht betrachten. Ich finde das total spannend, dass Sie das letztendlich auch bestätigen. Wenn wir noch einmal zum Thema Daten allgemein kommen, stellt sich für mich zum einen die Frage, wo kriegen wir eigentlich zukünftig die Daten her, die wir letztendlich benötigen, um das Risiko richtig einschätzen zu können und dann ein gefühlt dauerhafter Painpoint und auch ein Thema, woran häufig Digitalisierungsinitiativen scheitern oder zumindest verzögert werden, wem gehören eigentlich die Daten. Haben Sie dazu eine Meinung?

Hartmut Mai: Ja, wie gesagt, ich habe eingangs schon gesagt, wir haben schon eine ganze Menge Daten. Diese muss man sich einfach einmal vergegenwärtigen und diese Daten muss man zusammenführen, um dann vielleicht auf einer Cloud-basierten Lösung eine analytical Layer auf diese Data Cloud drüberzulegen, um sie dann per Sparte und dann aus Gesamtkundensicht zu analysieren. Jetzt gibt es natürlich auch neue Sparten oder neue Risikofelder, neue Sparten nicht mehr ganz so neu, aber lassen Sie mich Cyber nennen, wo sich natürlich hier immer wieder die Herausforderung stellt, wie gehe ich eigentlich mit einem aggregierten Risiko-Exposure um. Da stoßen Versicherer an die Grenzen, weil sie natürlich das nicht unbedingt über ihr gesamtes Portfolio alleine analysieren können. Da brauche ich einen digitalen Partner, der dort mit hineinkommt, der mir hilft, das zu analysieren, auch im Aggregat und auf den Einzelkunden spezifisch. Die existieren heute schon. Es ist eine ganze Menge davon. Auch diese Unternehmen arbeiten heute schon mit den Versicherern zusammen. Da brauche ich Daten von außen. Da ist natürlich dann die berühmte Frage, wem gehören eigentlich die Daten. Witzigerweise habe ich ganz am Anfang mit 18 dieser Unternehmen zusammen verhandelt und mir das angeschaut. Keines dieser Unternehmen hat mir jemals die Frage gestellt: Das sind aber jetzt meine Daten. Wie machen wir das jetzt eigentlich mit dem Austausch? Für die Unternehmen war das irrelevant, weil das nämlich von denen das Businessmodell war, gefälligst die Daten mit uns zu teilen. Da hat sich diese Frage nie gestellt. Ich glaube, diese Frage kommt immer nur da auf, wo dieses tradierte Gedankenmuster existiert. Sobald ich da ausbreche, gibt es diese Blockade nicht. Das nächste Beispiel ist Betriebsunterbrechungsversicherung. Ich glaube, Betriebsunterbrechung wird heute nach Covid etwas anders gesehen.

Benjamin Zühr: Wahrscheinlich.

Hartmut Mai: Ich glaube auch, dass nicht nur die Versicherer, sondern auch die Kunden für sich sagen müssen, wir sind zwar schon ganz gut aufgestellt, aber wir sind noch nicht perfekt aufgestellt, dass wir das Risiko auch jenseits vom Risikotransfer, also nur jetzt beim Kunden geblieben, meinem Vorstand sagen kann, in dem und dem Szenario habe ich folgendes Risiko auf der Bilanz, vor dem wir uns wappnen müssen. Ich glaube, dass dieser Bereich auch in naher Zukunft sich immer weiter verschieben wird. Da brauche ich auch Daten von außen. Hier auch die Frage, wer hat denn hier eigentlich die Datenhoheit. Witzigerweise wird die Frage auch hier nicht gestellt, weil, wenn Sie in die direkte Diskussion mit dem Kunden hineingehen, dann werden Sie eines feststellen, dass der Versicherer und der Kunde am gleichen Thema arbeiten und hier Interessengleichheit besteht. Überall da, wo Interessengleichheit besteht, kommt diese Frage der Datenhoheit gar nicht mehr auf. Insofern glaube ich, das lässt sich nur damit lösen, dass man das tradierte Denken über Bord wirft und neu denkt. Das ist natürlich jetzt schwierig, gerade in so einem traditionellen Bereich wie Versicherung oder Industrieversicherung. Deswegen glaube ich im Großen und Ganzen, wenn dieser Disput nicht aufzulösen ist, wird es ein Unternehmen brauchen, das für sich hier ein erfolgreiches Geschäftsmodell der Zukunft sieht und dann vielleicht ein gemeinsames Datenmodell bietet, was sie dann den jeweiligen Stakeholdern im Industrieversicherungsbereich gegen Bezahlung anbietet. Da gibt es ein Stichwort, was ich neulich gelesen habe, was ich sehr spannend finde. Das ist Data Trust, wo Daten zusammengeführt werden und als Trust verwaltet werden und jeder, der zu diesem Data Pool Zugang haben möchte, der muss das natürlich bezahlen. Das wird also monetarisiert. Aber es sind immer die gleichen Daten und Sie haben hier das gleiche Datenmodell auf Kundenseite, auf Maklerseite und auf Versicherungsseite. Vielleicht ist das ein Weg nach vorne. Aber diese Diskussion, die wir gerade führen und immer wieder führen – und die ist ja nicht neu, die führen wir seit zwanzig Jahren -, blockiert uns und wird uns nicht dazu führen, dass wir die Digitalisierung im Industrieversicherungsbereich vorantreiben können.

Ansgar Knipschild: Ein Thema, das bei dem Stichwort Data und Trust in den letzten Jahren ja doch sehr intensiv in der Branche diskutiert wurde, ist das Stichwort Blockchain, meistens nach meiner Wahrnehmung aber auch eher in kleinen Innovationsprojekten, weniger in großen Skalierungen gedacht, bis jetzt. Viele verbinden damit vor allen Dingen zwei Themen. Einmal kann ich Daten eindeutig und unveränderbar abspeichern, was, glaube ich, gerade im Versicherungsgeschäft wichtig ist, Schadeneintrittsdatum genauso gut, aber vielleicht auch Risikodaten zu einem gewissen Zeitpunkt. Ich glaube, das andere Faszinierende an dem Thema ist dieses Thema Datenhoheit. Je nach Design der Blockchain hat man das Thema technisch gelöst, weil diese Datenbank – ich vereinfache es jetzt einmal sehr – einfach keinem gehört. Sie gehört allen, wie gesagt, je nach Design. Wie ordnen Sie das ein, Herr Mai? Ist das für Sie ein Hype-Thema, was nun doch auch immer wieder in einigen Podiumsdiskussionen so genannt wird, das geht ja wieder weg und das ist ja nur Bitcoin und Krypto. Da werden auch viele Sachen durcheinandergeschmissen, meiner Meinung nach. Oder sehen Sie hier wirklich Lösungsansätze für die digitale Industrie beziehungsweise Industrieversicherung?

Hartmut Mai: Um das einmal vorwegzunehmen, für mich ist es kein Hype-Thema, sondern für mich ist das heute schon eine Realität, die sich zum Standard entwickeln wird. Ich sage das deswegen, weil ich sage, wir wissen alle, dass die Industrieversicherung bei diesem Standard, die unser normales Leben mit sich bringt, immer etwas hinterherhinkt. Da ist immer so ein bisschen so ein Zeitverzug. Aber ich gebe Ihnen einmal zwei Beispiele. Im Moment sprechen wir über den digitalen Impfausweis. Der digitale Impfausweis, der jetzt verabschiedet wurde, basiert auf Blockchain Technology. Kleine Unternehmen aus Deutschland, aus Köln – da schlägt das Herz etwas höher -, die daran beteiligt sind und die sich hier durchgesetzt haben. Das ist ein bahnbrechender Erfolg. Zweitens, Blockchain-Kunst, im Moment ja in aller Munde. Da werden auf Blockchain-Technologie basierende Kunstwerke über sechzig Millionen gehandelt. Warum nenne ich diese Beispiele? Weil das unser normales Leben betrifft. Jetzt gehen wir einmal auf das Thema Versicherung. Im Versicherungsbereich haben wir auch schon den einen oder anderen erfolgreichen PoC – Proof of Concept – hinter uns. Es mangelt im Moment noch an der Skalierung, aber ich glaube, dass das einfach der nächste logische Schritt ist, den die Versicherer gehen müssen. Damit meine ich jetzt nicht nur Blockchain-Technologie, die im Bereich von internationalen Versicherungsprogrammen nach erfolgreichem Bestehen von PoCs in die Umsetzung gehen sollten. Zwei davon habe ich selbst mit begleitet. Im Bereich von Parametric Insurance gibt es ja auch die parametrischen Trigger, die auch auf Blockchain basieren können und teilweise im Bereich von sogenannten getesteten Konzepten auch schon tun. Ich glaube, dass das kein Hype ist, sondern dass sich das verfestigen wird. Aber es ist immer das gleiche Thema, Speed der Umsetzung, Geschwindigkeit der Umsetzung und da hapert es leider im Industrieversicherungsbereich. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Dinge kommen werden.

Benjamin Zühr: Kommen wir noch einmal ein bisschen mehr wieder zu dem, was uns heute treibt, nämlich klassisch harter Markt, weicher Markt. Wir erleben gerade die ein oder andere Marktumwälzung oder zumindest die ein oder andere Herausforderung im D&O-Bereich und schon länger im Sachbereich, wo sich Kunden vor allen Dingen im letzten Renewal mit ordentlich steigenden Prämien beschäftigen mussten. Glauben Sie, dass letztendlich die Digitalisierung dazu beitragen wird, hier zukünftig Einfluss auf Marktzyklen und auf das Pricing zu nehmen?

Hartmut Mai: Die Digitalisierung muss Einfluss nehmen. Das, was Sie jetzt im Markt beobachten, ist wiederum sehr traditionelles Denken. Weicher Markt, harter Markt, es ist die ewige Diskussion, da treffen Sie irgendwelche Business Partner und die sagen dann, wie hart der Markt, wie weit gehen die Prämien nach oben und dann gehen die Prämien nach oben und keiner kann eigentlich für sich sagen und auch verstehen, wieso sind es jetzt 18 Prozent, oder dürfen es vielleicht auch 23 sein. Das heißt also, die mangelnde Transparenz, die jetzt auch überall angeprangert wird, das sind alles Dinge, die meines Erachtens nach Digitalisierung schreien. Der zweite Punkt – und das ist jetzt eine These, die ich schon seit mehreren Jahren vertrete -, ich glaube nicht, dass der Zyklus, den wir jetzt gerade sehen, ein zyklisches Problem darstellt. Das heißt also, auf ein zyklisches Problem reagieren Sie über Cycle Management, um dieses Problem zu lösen. Sie haben also eine Durststrecke von zwölf bis 15 Jahren, wo die Prämie verfällt. Jedes Jahr darf sie ein bisschen weniger sein. Dann gibt es nach zwölf bis 15 Jahren einen großen Knall, wo die Prämie dann exorbitant steigt, um die Prämienverluste der letzten zwölf bis 15 Jahre aufzuholen. Ich glaube, das tut weder dem Kunden gut, das tut dem Makler nicht gut und das tut auch dem Versicherer nicht gut und war bislang immer ein festgeschriebenes Gesetz, wie der Markt reagiert hat. Aus heutiger Sicht muss ich sagen, das ist nicht ein zyklisches Problem, sondern das ist ein strukturelles Problem. Auf ein strukturelles Problem kann ich nicht über Cycle Management reagieren. Sondern da muss ich mir andere Fragen stellen. Da muss ich mir strukturelle Fragen stellen und die gehen eigentlich in Richtung des Businessmodells in der Industrieversicherung. Da, wo die Kunden sich ja heute schon loslösen, ihre Produkte nicht mehr oder anders zu bepreisen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Conti verkauft keine Reifen mehr. Conti verkauft Mobilität. Sprich, Sie können sich einen Satz Reifen per Abo bestellen. Sie kaufen nicht den Reifen, sondern Sie kaufen Kilometerleistung. Dann muss doch der Versicherer sein Pricing-Modell umstellen, um die Risiken, die dieses neue Geschäftsmodell beinhalten, also den Risikotransfer darauf anzupassen. Wo ich mit dieser Antwort hin möchte, ist, ich muss mein Pricing-Modell von einer annual Premium, von einer Jahresprämie wegführen, die ein Risiko für dieses Jahr deckt, weil die Produkte der Kunden auch nicht mehr danach bemessen werden. Sondern die Produkte der Kunden werden heute anders bepreist. Hilti ist das nächste Beispiel. Sie kaufen keine Bohrmaschine mehr. Sie haben ein Abo auf immer die neuste Bohrmaschine, die in der Entwicklung stattfindet. Sie bezahlen die Usage, die Benutzung dieser Bohrmaschinen. Was muss das für einen Impact auf die Prämie haben? Die Prämie muss sich dort einhängen. Die muss analog damit laufen. Da ist der Industrieversicherer meines Erachtens meilenweit hinterher. Ich sage nicht, dass das trivial ist, schwierig. Aber es ist machbar und es wird sich verändern und es muss sich über die Digitalisierung verändern.

Benjamin Zühr: Letztendlich geht das auch ein bisschen in die Richtung, wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe, das Ganze weniger aus Spartensicht und mehr aus Risikosicht, also aus ganzheitlicher Kundensicht zu betrachten und so letztendlich wirklich ein harter Markt. Es betrifft ja in den seltensten Fällen einen ganzen Kunden, sondern immer nur einen Teil eines Kunden. Im Zweifel gibt es Branchen, die davon mehr betroffen sind. Andere Branchen sind davon weniger betroffen. Aber auch da, glaube ich, wird dieses Umdenken, was auch meiner Meinung nach zwingend erforderlich ist, wie gesagt, von dem Produkt hin zum ganzheitlichen Risiko letztendlich Einfluss auf das ganze Thema harter Markt, weicher Markt und Pricing haben.

Hartmut Mai: Absolut. Wenn Sie das ganze Thema mit Predictive Maintenance. Das ist das nächste Stichwort. Am Ende des Tages geht es um Risk Management. Heute denken die Leute immer nur in Richtung Risikotransfer. Wenn ich in Richtung Risk Management denke, dann geht es darum, Risiken auch zu vermeiden und nicht nur zu bezahlen, wenn sie sich manifestieren. Predictive Maintenance soll ja gewisse Risiken vorhersagen. Das eröffnet ein komplett neues Feld auf der Industrieversicherungsseite im Rahmen des Service, den ich dem Kunden anbieten kann und den ich auch bepreisen kann. Das wird einen Riesen-Impact auf die Risikotransferdenkweise haben. Das heißt also, wenn ich heute in der Lage bin, den Ausfall einer Turbine auf den Monat genau vorherzusagen, dann bringt das dem Kunden sehr, sehr viel. Das ist ein Service, den ich bepreisen kann. Aber es bringt natürlich auch dem Industrieversicherer sehr viel, weil er nämlich nicht in den Risikotransfer einsteigen muss, um am Ende des Tages das sich manifestierende Risiko dann über ihre Schadenabteilung abzuarbeiten, sodass hier eigentlich eine Anreicherung des Businessmodelles sein muss, die natürlich auch zu bepreisen ist. Aber das ist etwas, was meines Erachtens der Industrieversicherer heute leisten können muss.

Ansgar Knipschild: Herr Mai, Sie sagten eben, dass diese strukturelle Veränderung generell einer veränderten Struktur Antwort bedarf. Jetzt muss ich einmal eine Lanze für die Branche brechen, für die Industrieversicherung, sowohl die Versicherer als auch Makler. Ich glaube, mit Veränderung, mit Change tun wir uns ja alle schwer. Wenn man merkt – das berühmte Bild vom Frosch im kochenden Wasser -, die Temperatur steigt, irgendwie ist aber alles noch gemütlich warm, aber irgendwann kippt es und dann ist es meistens zu spät, dann wird man schon gekocht. Wir kennen das von diversen Branchen, die wir auch in unserem Alltag begleiten. Das ist im Energiesektor so. Das ist natürlich im Automobilsektor so. Sie haben Conti im Reifenbusiness als Beispiel genannt. Ich kenne es auch aus der Softwareindustrie, aus der ich selber rauskomme, wo man auch sagen muss, gilt das traditionelle Modell von Time and Material, klassisches Projektgeschäft überhaupt noch, oder muss man da nicht auch umdenken und das in einer Phase, wo es vielleicht in der Branche eigentlich ganz gut läuft. Da tut man sich noch schwerer damit. Worauf ich hinauswill, ist noch einmal die Frage an Sie, jetzt wieder in dem Bereich Industrieversicherung, wenn dieser Change so schwer ist – und fairerweise ist er für viele Branchen schwer, wir können das überall beobachten -, glauben Sie, dass das die Branche von sich heraus schafft, dass es die Player von sich heraus aus eigener Kraft schaffen, gerade an dem Thema Digitalisierung selber dieses Thema in den Griff zu kriegen?

Hartmut Mai: Wenn Sie jetzt einmal den jetzigen Marktzyklus sehen, dann lässt sich doch eins beobachten, dass die Portfolien, die seit mehreren Jahren weniger profitabel laufen, eigentlich für den gesamten Markt/ Davon sind alle Industrieversicherer betroffen. Da gibt es vielleicht ein leuchtendes Beispiel, eine Ausnahme. Aber alle anderen sind eigentlich seit mehreren Jahren unprofitabel. Dieses Thema wird jetzt wieder durch tradiertes Denken gelöst, harter Markt. Diejenigen, die dafür bluten, sind die Kunden. Der Kunde könnte auch auf die Idee kommen, anders auf diese Konstellation zu reagieren, anstatt jetzt die von ihm geforderte Prämie zu zahlen und den Risikotransfer etwas teurer weiterzuführen. Wenn der Kunde auf die Idee käme, dieses Risiko vielleicht in Modell zu überführen, in seine Captive oder andere Mechanismen zu nutzen, dann würde der Versicherer mit seinen Risiken dort stehenbleiben und hätte nicht mehr die Chance, eventuelle Verluste aus der Vergangenheit über erhöhte Prämien auszugleichen. Ich glaube, dann, erst dann sind wir in einer Situation, wo der Versicherer nachdenken würde. Dann ist es natürlich immer noch zu spät, aber erst dann ist man in einer Situation, wo man wirklich zum Nachdenken gezwungen wird. Da sind wir heute nicht, weil den Markt, so wie er heute reagiert, reagiert er so wie vor 15 Jahren oder vor dreißig, vor 45 Jahren. Es ist immer das gleiche. Aber ich glaube nicht, dass das in der Zukunft so passieren wird. Das heißt also, die Unternehmen werden immer digitaler. Wenn ich mir heute anschaue, wie digital Kunden denken – und ich denke jetzt einmal in Richtung Siemens, ich denke jetzt einmal, Siemens ist ein Softwarehaus -, das gesamte Geschäftsmodell ist digital. Wenn ich überlege, wie wir auf der Industrieversicherungsseite die Kunden heute bedienen, wir sind heute schon hinterher und wenn wir uns nicht bewegen, dann sind wir morgen Lichtjahre hinterher und dann sind wir nicht mehr relevant für diese Kunden, weil die Kunden andere Antworten finden, mit ihren Risiken umzugehen. Das ist eigentlich das, was ich meine. Deswegen ist es nicht so sehr eine Momentaufnahme, sondern ist eigentlich die Fragestellung, was muss die Industrieversicherung tun, um für den Kunden relevant zu bleiben. Wir werden nur für diesen Kunden relevant bleiben, wenn wir auf dem digitalen Denken und der Digitalisierung den Kunden – vielleicht mit etwas Zeitverzögerung – nachfolgen und uns deren Modell immer wieder vor Augen führen, es verstehen und darauf die richtigen Antworten finden. Wenn uns das nicht gelingt, wird die Industrieversicherung Relevanz verlieren und es wird jemand anders geben, der diese Relevanz darstellt. Ich möchte nicht immer dieses böse Wort des Disrupters nutzen, aber es gibt wahrscheinlich dann Unternehmen, die für sich diese Lücke entdecken und darauf ein komplett anderes Businessmodell bauen, was eventuell mit Industrieversicherung, so wie wir es heute kennen, gar nichts zu tun hat, aber diese Gedankenlücke aufnimmt und dann ein sehr interessantes Modell für den Endkunden liefert. Wir finden das heute schon. Die Leute, die da Interesse haben, können ja einmal anschauen, was das Unternehmen Skywise heute leistet, eine Open-Data-Platform für die Airline-Industrie oder alles, was mit Airline zu tun hat, Supplier Airlines, Flughäfen etc. Das ist so ein Modell, wo jemand von außen hereingekommen ist und sich das überlegt hat, wie kann ich hier eigentlich Veränderungen herbeiführen. Skywise, das letzte Mal, als ich sie angeschaut habe, waren sie zweieinhalb Jahre alt, da sind die schon bei 3,8 Milliarden Euro an Unternehmenswert worden. Ich weiß nicht, wo die heute stehen. Aber es ließe sich leicht herausfinden. Ich glaube, diese Beispiele gibt es heute schon. Seitdem ich das damals beobachtet habe, habe ich mir überlegt, was könnte the next Skywise in der Industrieversicherung sein. Ich bin damals auf den Gedanken gekommen, eigentlich müssen sie das gleiche Modell in der Kfz-Industrie durchziehen und das findet heute statt. Das gleiche Modell könnte eigentlich in der Pharmaindustrie durchgezogen werden. Ganz ehrlich, heute mit den Covid-Impfstoffen ist genau das zu beobachten. Wenn die Industrieversicherung hier nicht Schritt halten kann, dann wird das Geschäftsmodell angegriffen werden. Das findet heute schon statt. Das wird nicht mit einem lauten Bang passieren, sondern es wird schleichend passieren. Der Kunde wird dann entscheiden, wird es eine harte Abwägung geben. Die Abwägung wird zu Lasten der Industrieversicherer gehen, wenn man sich nicht bewegt. Davon bin ich felsenfest überzeugt.

Ansgar Knipschild: Da höre ich aber auch ein bisschen heraus, es muss nicht zwingend der ganz große sein, wenn Sie sagen, das kommt nicht mit einem Mal. Immer wieder auch gerade auf einer Vorstandsebene werden natürlich die dieser Welt zitiert, Google, die an der Schwelle stehen. Aber habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie da wahrscheinlich auch eher kleinere, wendigere Player vermuten, die werden reinkommen, nicht unbedingt die dieser Welt?

Hartmut Mai: Im Bereich Skywise war es Palantir. Von Palantir hat vor zwei Jahren noch keiner etwas gehört. Die gab es natürlich schon. Es war ein veritables, großes Unternehmen, ein bisschen skandalumwittert. Aber die haben jetzt ihren IPO gehabt. Seit der IPO stattgefunden hat, sind die auf einmal in aller Munde. Die haben vorher schon halbiert und immer mit dem Endverbraucher im Blickpunkt. Sehr agiles Unternehmen, unglaublich schnell. Das ist nur ein Beispiel. Es gibt viele andere Beispiele. Ich möchte jetzt nicht mgm nennen. Ich habe es gerade getan. Aber sie sind auch sehr agil und sehr wendig in diesem Bereich. Das sind jetzt nur zwei. Ich habe vorhin 18 gesagt. Ich habe mir 18 Unternehmen angeschaut, die ihre Servicedienstleistungen im Bereich Cyber Insurance anbieten. Sehr wendige, sehr schnelle Unternehmen, alles Start-ups vor vier oder fünf Jahren, die nicht alle super erfolgreich sind, aber wo es drei oder vier zu Unicorns geschafft haben. Das findet überall statt und deswegen, glaube ich, ist es auch wichtig. Wir haben am Anfang über digitale Partnerschaften gesprochen. Wenn die Industrieversicherer digitale Partnerschaften eingehen, dann sind sie sofort mit an diesem Informationsfluss dran. Sie beobachten ständig den Markt. Das ist ein anderer Markt als das, was man bislang getan hat. Noch einmal, tradiertes Modell, der Endkunde, der Makler und der Industrieversicherer. Sondern dann sind auf einmal ein paar mehr Teilnehmer an diesem Ecosystem dran, die dem Industrieversicherer die Möglichkeit bieten, auf eine sich verändernde Sichtweise von Risiko eine Antwort zu bieten. Deswegen ist das so wichtig. Ich glaube, daran führt kein Weg vorbei, ein bisschen weiter zu denken. Wenn das nicht stattfindet, dann und ich möchte jetzt nicht Angst machen. Viele Leute sagen, da kommt der große Disrupter und ihr müsst jetzt alle Angst haben. Das ist gar nicht mein Punkt. Mein Punkt ist einfach, es bietet gigantische Chancen für Industrieversicherung und diese Chancen müssen wahrgenommen werden. Und wenn die Chancen nicht von den Versicherern wahrgenommen werden, dann wird jemand anders kommen, diese Chancen wahrnehmen. Das wird ein schleichender Prozess sein, der aber dann immer größer wird und der exponentiell steigt und wo der Kunde dann dazu getrieben wird, berühmte Relevanzfrage. Das Haus, wo ich selber rauskam, Industrieversicherung, da möchte ich eigentlich nicht sehen, dass die nicht mehr für den Kunden relevant sind. Um das wirklich zu erreichen, muss Industrieversicherung anders gedacht und anders gelebt werden.

Benjamin Zühr: Ein Grund, warum Industrieversicherung heute noch so gedacht wird und gelebt wird, ist ja vor allen Dingen, dass viele einfach sagen, das geht gar nicht zu digitalisieren, das ist so individuell, da haben wir keine Chance. Was für Möglichkeiten sehen Sie denn vor allen Dingen kurzfristig hier, Probleme zwischen Industriekunden, Maklern und Versicherer zu lösen? Was könnte da Ihrer Meinung nach helfen? Gibt es kurzfristige Ansätze, die zum einen natürlich dem Kunden einen direkten Nutzen stiften würden, aber auch den anderen Prozessteilnehmern und zum anderen vielleicht dem einen oder anderen doch sehr traditionell orientierten Menschen in dieser Branche zeigt, da geht ja doch etwas?

Hartmut Mai: Da sprechen Sie einen ganz wichtigen Bereich an. Im Moment philosophieren ja alle über Digitalisierung, ohne für sich wirklich zu definieren, was heißt das eigentlich für mich. Sie können Digitalisierung in dem Sinne nicht für den gesamten Markt definieren, aber es müssten doch zumindest die Unternehmen zunächst erst einmal im ersten Schritt hergehen, was heißt das für mich. Sprich, ich muss mir als Industrieversicherer die Frage stellen, welches Kompetenzmodell muss ich verfolgen, um als digitaler Industrieversicherer zu gelten. Dieses Kompetenzmodell muss durch alle Funktionseinheiten des Unternehmens durchgetrieben werden. Das muss ich definieren. Dann muss ich die Entwicklung des Unternehmens an diesem Kompetenzmodell ausrichten. Das heißt also, ich erkläre das an der Stelle immer, das Kompetenzmodell ist für mich das Fußballfeld. Jetzt kann ich natürlich nicht auf diesem Fußballfeld es auf jedem Grashalm und auf jeder Ecke zu Perfektion bringen. Ich muss für mich definieren meinen eigenen Strafraum, meine eigene Spielhälfte, den Strafraum des Gegners und das verfolge ich dann an dem definierten Kompetenzmodell. Darauf fokussiere ich meine gesamte Kraft, um mir erst einmal diesen Bereich vorzunehmen. Wenn der Bereich dann erfolgreich digitalisiert ist, dann kann ich ja gerne breiter werden. Aber ich fokussiere mich erst einmal. Es gibt mehrere Bereiche, auf die man sich fokussieren kann. Wir haben das schon einmal in der Vergangenheit angerissen. Es gibt zum Beispiel den Bereich der Risikoingenieure. Bei manchen Versicherern heißt das ARC. Das heißt, die Risikoingenieure, die ausgesandt werden, das lokale Risikogutachten, was dann in das Unterwriting/ also die Ergebnisse in das Underwriting einfließen. Inwiefern kann ich das denn über Digitalisierung effizienter machen? Im Moment ist es ja so, dass alle Industrieversicherer, die eine Führungsaufgabe auf einem Risiko wahrnehmen können, ihre Ingenieure zu (den gleichen Zeiten hinschicken? Sprich, da treffen sich dann die Allianz-Kollegen, zwei Wochen später kommen die Kollegen von der Zürich hin, drei Tage später kommt die Swiss Re hin und dann kommt die Münchener Rück noch einmal hin und alle machen das gleiche, alle gucken sich das gleiche Puppenhaus an und alle hoffen und ich komme zum gleichen Ergebnis. Vielleicht kann man das etwas anders denken. Dann hätte ich hier auf dem Fußballfeld einen Bereich herausgegriffen, auf den ich mich fokussiere und hier über Digitalisierung Effizienzen hebe. Wenn das passiert ist, dann nehme ich mir den nächsten Bereich. Der könnte eventuell sein internationale Versicherungsmodelle. Auch hier kann sich eigentlich kein Versicherer vom nächsten abheben, weil der Service ja immer der gleiche ist, ein lokales Zertifikat und eine lokale Prämienzahlung und eine lokale Steuerabfuhr. Ganz ehrlich, das ist ja trivial und alle machen das gleiche. Alle versuchen, sich auf diesem Modell voneinander abzusetzen. Könnte da Digitalisierung helfen? Ja klar, kann da Digitalisierung helfen. Ich will jetzt nicht nur Blockchain sagen, aber da gibt es ja auch andere Sachen, die da helfen können. Dann hätte ich das zweite Segment auf meinem Fußballfeld definiert, auf dem Digitalisierung etwas helfen könnte. So arbeite ich meine Prioritäten ab, die immer den Kunden etwas bringen. Und noch einmal, das Stichwort Relevanz ist so wichtig, das muss beim Kunden ankommen. Der Kunde muss sehen, dass sich da etwas tut und der Kunde muss sehen, dass ich entweder einen besseren Service für das gleiche Geld kriege oder weniger Geld für den gleichen Service bezahlen muss. Irgendein Vorteil muss beim Kunden ankommen. Ich glaube, das ist machbar und ich glaube, man muss das Thema Digitalisierung in einzelne Bereiche aufbrechen, um es wirklich mehr verdaubar zu machen. Es hilft uns nichts, wenn wir jetzt hergehen, über Digitalisierung diskutieren und dann ins Jammern verfallen, was ich wirklich oftmals beobachte. Sondern wir müssen mehr tun und wenn man es tut, sich nur darauf fokussiert, vielleicht als ersten Schritt mein Fußballfeld zu definieren und dann überlegen, wo setze ich meine Priorität, die sich immer am Kunden orientieren muss. Da setze ich an, um schnell eine skalierbare Lösung zu finden.

Ansgar Knipschild: Ich hätte eine Frage dazu, Herr Mai. Sie haben das eben sehr schön anhand der Risikoingenieure beschrieben, wie sich dann die verschiedenen Ingenieure der Gesellschaften die Klinke in die Hand geben und das Risiko besichtigen. Wenn wir das jetzt noch einmal ganz konkret nachvollziehen und sagen, so, das wäre ein Ansatz, wo wahrscheinlich ganz viele Versicherer sagen, Mensch, lass zusammentun, lass uns eine – ich nehme das Wort – Plattform bauen, auf der wir diese Informationen zusammentragen. Wie kriegt man die an einen Tisch? Diese auch immer wieder diskutierte Frage, ich glaube, im letzten von Herrn Fromme organisierten Industrieversicherungsforum, wo ja auch Vertreter dabei waren, wurde die Verbandsdiskussion wieder auf den Tisch gebracht – auch, glaube ich, ein Thema, das wir schon seit mindestens zehn Jahren kennen. Die bisherigen Versuche in diese Richtung waren ja doch immer in sehr kleinen Partnerschaften. Ich meine klein in dem Sinne, dass da zwei oder drei Player sich zusammengetan haben, vielleicht ein Versicherer mit einem Makler oder mit zwei Maklerhäusern. Haben Sie da eine Idee, wie man das anstoßen könnte?

Hartmut Mai: Ich habe das in der Vergangenheit im Bereich des ARC versucht, ganz am Anfang, das ist schon zig Jahre her. Das ist damals aufgrund rechtlicher Erwägungen gescheitert. Dort hat man versucht, die ARC-Truppen von drei signifikanten Marktteilnehmern zusammenzuführen, um dann eventuell im Endeffekt auf den jeweiligen sich zeichnenden Risiken und wenn man sie anschaut, einen Marktstandard zu definieren. Die sind damals gescheitert, weil die Rechtsabteilungen gesagt haben, das ist Kartell. Darum erwähne ich das. Das ist dann nicht getestet worden oder so. Aber ich glaube, die Themen sind komplexer, als wie wir sie gerade besprechen. Da sind viele, viele Aspekte zu betrachten. Der rechtliche Aspekt ist auch ein entscheidender. Weil, wenn das dann so betrachtet würde und dieses Problem nicht lösbar ist, dann scheitert das direkt am Anfang. Deswegen glaube ich auch, das muss dann ein außenstehendes Unternehmen für sich aufnehmen und ein Businessmodell darauf definieren und dort dann hineingrätschen, ansonsten kommen Sie an der Kartellfrage nicht vorbei. Es ist schwierig. Die perfekte Lösung existiert nicht. Aber ich glaube auch nicht, dass das immer nur ein Plattformthema ist. Plattform haben wir ja schon probiert, Ausschreibungsplattform, Inex24. Vielleicht war der Zeitpunkt auch verkehrt. Vielleicht waren die einfach zu früh dran. Aber vielleicht hat man sich auch den falschen Bereich ausgesucht. Wir haben nämlich den kompetitivsten Bereich ausgesucht, den Ausschreibungsprozess, da wo sich alle Marktteilnehmer drauf stürzen, nicht nur die Versicherer, sondern auch die Makler. Vielleicht wäre es sinnvoll, sich einen weniger kompetitiven Bereich auszusuchen. ARC oder Risikoingenieure habe ich ja schon erwähnt. Wieso soll das kompetitiv sein. Das ist eigentlich nur ein Kostentreiber. Das Assessment von einem Versicherer sollte ausreichen, dass es alle anderen Versicherer akzeptieren, was immer dabei herauskommt, wenn es einen gewissen Risikostandard verfolgt, also wie so eine DIN-Norm. Dann die nächste Frage, Renewal ist eigentlich nur dann relevant, wenn der Marktzyklus eingreift, wie jetzt zum Beispiel. Wir waren jetzt 15 Jahre im weichen Markt. Das heißt also, in 14 aus 15 Jahren war das Renewal nicht kompetitiv. Wieso kommt jetzt nicht jemand von außen herein und sagt, das ist mein Geschäftsmodell, Versicherer, ich nehme euch das Renewal ab, ich manage das für euch gegen eine Fee, und zwar alle auf der gleichen Plattform für den gesamten Markt. Das wäre ein interessanter Ansatz. Ich glaube, das gibt hinreichend Möglichkeiten, die einzelnen Prozessschritte neu zu denken. Ich glaube nicht, dass der Industrieversicherer oder die Industrieversicherer von sich aus die Kraft dazu haben, weil sie eigentlich in einem kompetitiven Umfeld gefangen sind, wo sich keine allgemeingültige Plattform etablieren kann. Oder Platzierungsplattform, jetzt auch einmal aus Broker-Sicht gedacht. Ich muss einen Tower von fünfhundert Millionen Deckungsstrecke platzieren. Da ist für mich eigentlich nur relevant, wer ist der Führende. Die Kapazitäten, wie ich die nachher verteile, kann ich nach einem Algorithmus verteilen. Das kann ich komplett automatisiert ablaufen lassen, mit Versicherern, die ich vorher auf deren Kreditwürdigkeit gescreent habe und einige Compliance-Themen, die ich vorweglege. Die sind dann Teil meines Panels und der Algorithmus entscheidet, bis die Deckungsstrecke voll ist.

Ansgar Knipschild: Herr Mai, vielen Dank für die Einschätzung. Das Bild vom Fußballplatz ist bei mir hängengeblieben. Ich glaube, das ist die spannende Frage, auch wie Sie es gerade noch einmal im Rückblick geschaut haben, wo finden wir das Fleckchen auf dem Spielfeld, was nicht so kompetitiv ist, was sich gut digitalisieren lässt. Das ist, glaube ich, wirklich ein gutes Bild, das ich mitnehme. Ich bedanke mich auf jeden Fall für Ihre Einschätzung vom Markt. Vielen Dank.

Hartmut Mai: Sehr gerne. Auch noch einmal vielen Dank an Sie. Mir hat das sehr viel Spaß gemacht.

Benjamin Zühr: Von meiner Seite vielen lieben Dank und wenn Sie mir erlauben, noch eine ganz kleine letzte Frage an Sie. Sie schreiben auf Ihrem LinkedIn-Profil: Ready for the next Challenge. Was würden Sie gerne in Ihrer nächsten Position als Challenge in Angriff nehmen?

Hartmut Mai: Das ist eine Frage, die geht so ein bisschen unter meine Haut. Ich sage Ihnen auch warum. Ich habe mich mit der Beantwortung dieser Frage nicht so leichtgetan. Das heißt also, ich habe da sechs Monate überlegt. Wenn ich jetzt überlegt sage, dann heißt das wirklich, ich bin da strukturell rangegangen und habe mir darüber intensiv Gedanken gemacht. Ich möchte versuchen, nicht mehr das zu machen, was ich vorher gemacht habe. Sondern ich möchte die Herausforderungen, die wir jetzt auch diskutiert haben, mit aufnehmen und an etwas arbeiten, wo man den Markt ein Stück weit mitverändert, und zwar zum Positiven. Die Gedanken, die wir jetzt gerade diskutiert haben, würde ich gerne dort mit einfließen lassen. Das heißt also, ich kann Ihnen das jetzt nicht definieren.

Benjamin Zühr: Das müssen Sie auch nicht.

Hartmut Mai: Aber ich kann Ihnen einfach nur sagen, dass mich eigentlich die Aufgabe mehr interessiert. Wenn ich dann einmal zehn Jahre oder 15 Jahre zurückblicke, dann möchte ich eigentlich sagen können, wow, an den Themen habe ich mitgearbeitet und da haben wir wirklich einen großen Fußabdruck hinterlassen. Daran hätte ich Spaß und das meine ich mit Challenge. Das ist für mich eine Herausforderung, die noch einmal richtig Spaß machen würde, da mitzuwirken und auch das maßgeblich mitzusteuern. Viele Leute reden heute immer von Transformation oder digitaler Transformation. Ich möchte das gar nicht. Ich will nicht mehr diese Schlagworte gewöhnen, weil das viele andere schon machen. Aber ich glaube, für mich selbst definiert ist das die Herausforderung, die ich ganz gerne annehmen würde. Da würde ich gerne helfen. Ich habe viel in der Vergangenheit gesehen und ich glaube, das kann man dort einfließen lassen. Ohne dass das hier eine Bewerbungsrede wird, aber das meine ich damit.

Benjamin Zühr: Das hört sich auf jeden Fall superspannend an. Letztendlich glaube ich, es gibt nicht viele am Markt, die dieses tiefe Verständnis von diesem Thema haben und sich so viele Gedanken zu diesem Thema machen. Auch ich und wir sind davon überzeugt, dass es letztendlich ein Umdenken geben muss. Deswegen, glaube ich, werden wir uns dann sicherlich noch sehr häufig zu diesem Thema sprechen und austauschen, um letztendlich wirklich in Zukunft auch etwas zu bewegen. In diesem Sinne.

Hartmut Mai: Ja, ich freue mich darauf. Wie gesagt, ich finde das Thema sehr spannend, wie Sie vielleicht auch die Passion, die zwischen den Zeilen ein bisschen mitschwingt. Ich finde das Thema sehr spannend und ich glaube, die Industrieversicherung bleibt spannend. Die hat mich immer bewegt, seitdem ich überhaupt in dieser Industrie angefangen habe und war das eine spannende Phase. Wir treten jetzt in die nächste spannende Phase ein und ich glaube, da lässt sich viel gestalten.

Ansgar Knipschild: Das perfekte Schlusswort, Herr Mai. Ready for the next Challenge. In dem Sinne einen schönen Tag an alle Beteiligten und auch an die Zuhörer draußen bis demnächst. Danke schön und Tschüss.

Hartmut Mai: Tschüss.

Benjamin Zühr: Tschüss.

Der Podcast „Industrieversicherung Digital“ ist eine Initiative für den offenen Austausch über die Digitalisierung von Industrie- und Gewerbeversicherung: Versicherer, Makler, Kunden und IT im direkten Dialog.

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